Natur und Wissenschaft

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.08.2003, Nr. 192, S. N1



Zu den Wurzeln der Kontinente
Seismische Wellen geben Auskunft über die Dicke der Erdkruste

In jedem Lehrbuch der Geowissenschaften ist der schalenförmige Aufbau des Erdinneren beschrieben. Daß eine solche Darstellung die wahren Verhältnisse grob vereinfacht, ist seit langem klar. Vor allem über die Dicke der obersten Schicht der Erde gibt es unter Forschern noch zahlreiche unterschiedliche Meinungen. Wie tief, so wird beispielsweise gefragt, reichen die Wurzeln der Kontinente? Eine Gruppe von Seismologen aus Kalifornien hat nun aus der Analyse von Erdbebenwellen geschlossen, daß die Kontinente maximal 250 Kilometer dick sind.

Da der direkte Blick ins Erdinnere versperrt ist, sind die Geowissenschaftler auf indirekte Untersuchungsverfahren angewiesen. Dabei nutzen sie vor allem die Tatsache, daß seismische Wellen an Grenzschichten innerhalb der Erde gebrochen werden wie Lichtwellen, die von der Luft in eine Flüssigkeit eindringen und zum Beispiel einen schräg in einem Wasserglas stehenden Stab geknickt erscheinen lassen. Das ist auf die unterschiedlichen optischen Eigenschaften von Luft und Wasser zurückzuführen. Ähnlich haben verschiedene Gesteine unterschiedliche mechanische Eigenschaften. Festen Granit etwa durchlaufen Erdbebenwellen deshalb wesentlich schneller als lockeren Sandstein, und heißes Magma bremst Erdbebenwellen ab.

Wenn Bebenwellen an einer Schichtgrenze im Erdinneren, an der sich ihre Geschwindigkeit ändert, gebrochen werden, macht sich der "Knick" als deutlicher Ausschlag im Seismogramm bemerkbar. Aus der zeitlichen Abfolge der Ausschläge können die Seismologen berechnen, in welcher Tiefe sich die Schichtgrenze befindet. Auf diese Weise entdeckte der kroatische Forscher Mohorovicic schon vor dem Ersten Weltkrieg, daß in Europa die später zu seinen Ehren als "Moho" bezeichnete Grenze zwischen Erdkruste und Erdmantel in etwa dreißig Kilometer Tiefe verläuft. Unter den Meeren liegt sie dagegen weniger als zehn Kilometer tief.

Spätestens mit der Einführung der Plattentektonik zeigte sich jedoch, daß diese Beschreibung des Übergangs von der Erdkruste zum Erdmantel zu einfach ist. Die auf der zähflüssigen Schmelze des Erdmantels driftenden Platten reichen nämlich viel tiefer. Manche Forscher setzten die Untergrenze der sogenannten Lithosphäre in 410 Kilometer Tiefe an, weil es dort eine Grenzschicht im oberen Erdmantel gibt. Andere meinten dagegen, die Wurzeln der Kontinente reichten nur wenig mehr als hundert Kilometer tief.

Eine Forschergruppe der University of California in Berkeley unter Leitung von Barbara Romanowicz hat nun die Lage der Grenze zwischen der tektonisch aktiven oberen Schicht der Erde und dem darunter liegenden Erdmantel abermals untersucht. Sie werteten dazu die Aufzeichnungen der Polarisation verschiedener Erdbebenwellen aus. Unterschiedliche Gesteinsschichten lassen nämlich seismische Wellen nicht nur mit verschiedenen Geschwindigkeiten passieren. Sie können auch, ähnlich einer Polarisationssonnenbrille, manche Wellenarten stärker dämpfen als andere. Aus den unterschiedlichen Polarisationen von Erdbebenwellen kann somit auch auf die Beschaffenheit des Gesteins geschlossen werden.

Wie die amerikanische Forschergruppe kürzlich in der Zeitschrift "Nature" (Bd. 422, S. 707) geschrieben hat, ergab die Untersuchung der Polarisation einiger Erdbebenwellen, daß die obere Schale der Erde unter den Kontinenten maximal etwa 250 Kilometer tief reicht, unter den Ozeanen endet sie dagegen schon in 80 Kilometern. Der große Unterschied zwischen Land und Meer ist auf das jeweilige Alter der Erdkruste zurückzuführen. Im geologischen Sinne ist nämlich die marine Erdkruste - anders als die kontinentale - verhältnismäßig jung, sie ist nirgendwo älter als 200 Millionen Jahre. Die zum Teil mehrere Milliarden Jahre alten Kontinente sind dicker, weil sich dort im Laufe der Erdgeschichte mehr Gestein angesammelt hat.

hra


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